Doppelbestrafung: Eigentlich ist der Wortlaut von Art. 103 III GG eindeutig:

„(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“

Darüber, dass das Verbot der Doppelbestrafung auch ein Verbot der Doppelverfolgung nach einem Freispruch verbietet, waren sich Rechtswissenschaft und Literatur (also das Bundesverfassungsgericht, die Obergerichte und namhafte Juristinnen und Juristen) immer schon einig.

Aber wie so oft in der Justiz und beim Gesetzgeber: Selbst die klarsten Grundsätze kommen ins Wanken, wenn die Boulevardpresse den Gesetzgeber vor sich hertreibt:

Die Schülerin Frederike von Möhlmann war 1981 durch ein schreckliches Verbrechen zu Tode gekommen.

Der seinerzeit Tatverdächtige war zunächst wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden, der Bundesgerichtshof hatte dann die Verurteilung aufgehoben, ein anderes Gericht – das Landgericht Stade – kam später zur Auffassung, dass die Beweise für eine Verurteilung nicht ausreichen und hatte den Tatverdächtigen freigesprochen.

Die Familie der Getöteten wollte sich mit diesem Freispruch nicht abfinden und hatte auf erneute Ermittlungshandlungen gedrängt, die schließlich dazu führten, dass eine später technisch mögliche DNA-Untersuchung neue Hinweise auf den ursprünglich Tatverdächtigen und später freigesprochenen Beschuldigten ergab.

Da eine erneute Anklage aufgrund des klaren Wortlautes des Grundgesetzes und von § 362 StPO nicht möglich schien, drängte die Boulevardpresse die Politik die Strafprozessordnung zu ändern.

Künftig sollte nach dem neu geschaffenen § 362 Nummer 5 StPO eine Wiederaufnahme des Verfahrens auch dann möglich sein, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die alleine oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes verurteilt wird.

Der deutsche Anwaltsverein und zahlreiche Strafverteidigerrinnen und Strafverteidiger liefen Sturm gegen dieses neue Gesetzesvorhaben.

Bundesjustizministerium und später auch der Bundespräsident hatten erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Es nützte nichts, die Strafprozessordnung wurde im Jahre 2021 so geändert, dass eine Wiederaufnahme nunmehr unter vermeintlich engen Voraussetzungen und in Ausnahmefällen möglich sein sollte.

Der ehemals Verdächtige kam wieder in Untersuchungshaft und wurde angeklagt. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt im Juli 2021 in einem Eilverfahren entschieden, dass der Angeklagte unter Auflagen aus der Haft entlassen wird, da Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung der Strafprozessordnung bestünden und es daher möglich erscheint, dass die Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren Erfolg hat ( – 2 BvR 900/22 – ).

Die vorläufige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist richtig. Natürlich besteht ein Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit. Aber die Antwort des Grundgesetzes ist eindeutig: Der Staat hat zu Recht nur eine Chance, dem Beschuldigten in einem rechtsstaatlich geordneten Verfahren eine Straftat nachzuweisen – oder eben nicht.

Jedes andere Verständnis der Verfassung würde dazu führen, dass Verfahren immer wieder aufgerollt werden können, wenn vermeintliche oder tatsächliche neue Beweise auftauchen.

Auch wenn die Novellierung der Strafprozessordnung zunächst nur in engen Ausnahmefällen bei einer Verurteilung wegen Mordes u.a. möglich sein soll, wäre bald schon damit zu rechnen, dass die Änderung der Strafprozessordnung verbunden mit der Erleichterung der Wiederaufnahme zulasten eines Freigesprochenen in zahlreichen Verfahren möglich wird, etwa auch bei Sexualdelikten oder schweren Fällen des Drogenhandels.

Eine Prozesswelle könnte folgen und niemand wäre sich mehr sicher, auch im Falle eines Freispruches erneut und immer wieder angeklagt zu werden.

Dies gilt im Übrigen auch im konkreten Fall, bei dem der Freispruch vom Vorwurf des Mordes ja nicht zwangsweise aufgehoben würde, wenn sich beispielsweise später einmal herausstellen würde, dass “nur“ ein Totschlag begangen wurde oder sich die vermeintlich überzeugenden neuen Beweismittel – hier eine DNA – in der Hauptverhandlung als weniger überzeugend darstellen.

 

Pressebericht

 

Badische Zeitung v. 21.08.2022

Warum ein freigesprochener Mann doch noch wegen Mordes verurteilt werden könnte

„(…) Dass Bundespräsident Steinmeier ebenso wie viele Juristen Bauchschmerzen wegen des Absatzes hat, hat unter anderem mit Bedenken zu tun, ob der Paragraf verfassungskonform ist. „Wenn man sich das Grundgesetz anschaut, dann ist der Wortlaut eindeutig“, kritisiert Strafrechtler Janssen. Zudem fürchtet er, dass es bald nicht mehr nur um Mord gehen werde, sondern auch um Tatbestände wie Vergewaltigung oder Totschlag.(…) „

 

 

Pressemittelung Bundesverfassungsgericht Nr. 62/2022 vom 16. Juli 2022

zum Beschluss vom 14. Juli 2022 2 BvR 900/22

 

 

gez.

Rechtsanwälte Jens Janssen, Jan-Georg Wennekers und Dr. Jan-Carl Janssen