Leitsatz: Ein Erblasser ist so lange als testierfähig anzusehen, wie seine Testierunfähigkeit nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen ist.
(Entscheidung des OLG Rostock, Beschluss vom 12.4.2023 – Aktenzeichen 3 W 74/21)

 

Sachverhalt:

Der Erblasser errichtete drei gleichlautende handschriftliche Testamente, die später an unterschiedlichen Orten gefunden wurden. Die drei Schriftstücke haben (mit leichten Unterschieden in den Schreib- und Darstellungsweisen) folgenden Inhalt:

 

»Hiermit verfüge ich U.P. gebo […] 1961 daß nach meiner Ableben Frau U.M. gebo […] 1964 als alleinige Erbin für mein Haus in C. Mabilar und mein Grundstück […] in F. OT C. C.-Str. einsetze. Mein Auto verderbe ich V.S. Ich bin im vollen Besitz meiner geistiger Kräfte.«

 

Die gesetzlichen Erben beantragten einen Erbschein, mit der Behauptung, nach gesetzlicher Erbfolge Erben geworden zu sein. Die im Testament benannte Frau U.M. beantragte ihrerseits Erteilung eines Erbscheins dahingehend, dass sie Alleinerbin geworden sei.

Die gesetzlichen Erben halten die drei Testamente für unwirksam, da der Erblasser zum Zeitpunkt der Errichtung der Testamente nicht testierfähig gewesen sei. Der Erblasser habe unter einer frühkindlichen Hirnschädigung mit zerebralem Residualsyndrom mit Intelligenzminderung gelitten. Anlässlich der Untersuchung zur Einrichtung einer Betreuung habe der beauftragte Gutachter deutliche Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen des Erblassers beschrieben. Der Erblasser sei danach vermehrt irritabel, erfasse gestellte Fragen nur ungenau und schwer, eine chronologische und inhaltliche Strukturierung des Gesprächs sei nur schwer möglich, er neige zu plötzlichen Gedankensprüngen […].

Die mutmaßliche Alleinerbin hält die Testamente für wirksam. Der Erblasser und sie hätten in einem engen freundschaftlichen Verhältnis gestanden und gemeinsam mit dem Ausbau des Wohnhauses des Erblassers zur Einrichtung eines Gebrauchtwarenladens begonnen. Die Ideen und Planungen hätten darin gemündet, auch kostenintensive Maßnahmen umzusetzen und letztlich einen gemeinsamen Altersruhesitz zu schaffen. […] Der Erblasser sei auch voll geschäfts- und testierfähig gewesen. Die ursprünglich eingerichtete Betreuung, die nie für die Vermögenssorge gegolten habe, seit 2018 aufgehoben worden. Der Erblasser habe sich schon zuvor selbst versorgt. Er sei Inhaber einer Fahrerlaubnis und Eigentümer eines Neuwagens gewesen und habe ehrenamtlich im Ort und bei der Feuerwehr mitgewirkt. Beim Ausfüllen von Unterlagen hätten ein Freund und eine Nachbarin geholfen. Die Rechtsgeschäfte rund um das Auto habe der Erblasser selbst erledigt. […].

Das Nachlassgericht hat den Hausarzt des Erblassers schriftlich zu dessen Gesundheitszustand befragt: »Wir haben keine speziellen Untersuchungen zur Hirnleistungsfähigkeit durchgeführt. Die Intelligenzminderung, zusammen mit einer hochgradigen Schwerhörigkeit führte zu ausgeprägten Problemen in der Bewältigung des alltäglichen Lebens. Der Erblasser war leicht beeinflussbar, auch hilfsbereit und konnte sicher auch schnell manipuliert werden. Es fällt mir schwer zu glauben, dass der Erblasser ein solches Testament selbst verfasst und aufgesetzt hat. Es ist zu bezweifeln, dass er die volle Tragweite der Verfügung erfasst hat…«

 

Verlauf:
1. Instanz

Das Nachlassgericht (Amtsgericht) erteilte den gesetzlichen Erben den Erbschein und lehnte den Antrag auf Erteilung eines Erbscheins der mutmaßlichen Alleinerbin ab. Hiergegen hat diese fristgerecht Beschwerde eingelegt, dies mit Erfolg.

 

2. Instanz

Das Oberlandesgericht Rostock entschied, dass das Nachlassgericht zu Unrecht die Tatsachen zu Erteilung des Erbscheins für die gesetzlichen Erben für festgestellt erachtet und den von der mutmaßlichen Alleinerbin begehrten Erbschein zu Unrecht abgelehnt hat.

 

Entgegen der amtsgerichtlichen Auffassung steht zur Überzeugung des OLG unter Berücksichtigung aller erheblichen, auch außerhalb der Urkunde liegenden Umstände und der allgemeinen Lebenserfahrung bei gebotener Auslegung fest, dass die in den drei Testamenten niedergelegten Erklärungen mit Testierwillen des Erblassers abgegeben worden sind, also auf dem ernsthaften Willen des Erblassers beruhen, ein Testament zu errichten und rechtsverbindliche Anordnungen über sein Vermögen nach seinem Tode zu treffen. Hierauf lassen insbesondere die Ausführungen des vom Oberlandesgericht beauftragten Sachverständigen schließen. […] Die Einholung des Sachverständigengutachtens war notwendig, da der amtsgerichtliche Beschluss zwar vermeintlich allein auf den angeblich fehlenden Testierwillen des Erblassers abstellt, die inhaltliche Begründung des Beschlusses hierzu aber vielfach die Testierfähigkeit des Erblassers betrifft. Dies gilt insbesondere für die Übernahme des Inhalts der hausärztlichen Stellungnahmen, die das Amtsgericht zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat. […].

 

Dass der Erblasser vorliegend drei Testamente mit (fast) gleichem Wortlaut errichtet und dafür gesorgt hat, dass diese an unterschiedlichen Orten aufbewahrt werden, spricht nach Auffassung des Senats dafür, dass er sich darüber im Klaren gewesen ist, hiermit letztwillige Verfügungen zu erstellen. Da er hierdurch offensichtlich dafür sorgen wollte, dass seinem Testierwillen auch entsprochen wird, steht für den Senat fest, dass der Erblasser in dem Bewusstsein gehandelt hat, eigene letztwillige Verfügungen zu erstellen. Der »Fehler gespickte« Text der drei Testamente stellt zudem zumindest ein Indiz dafür dar, dass der Erblasser nicht einfach nur einen vorgegebenen Text abgeschrieben hat. Trotz Schreibfehler ist der vom Erblasser hierin geäußerte Wille dabei eindeutig erkennbar. Die Schreibfehler stehen dabei mit der unstreitigen Schreib- und Leseschwäche des Erblassers im Einklang…

 

Auch eine Testierunfähigkeit des Erblassers vermag das Oberlandesgericht nicht zu erkennen. Grundsätzlich gilt in diesem Zusammenhang, dass ein Erblasser bis zum Beweis des Gegenteils als testierfähig anzusehen ist, da die Störung der Geistestätigkeit die Ausnahme bildet. Dies gilt selbst dann, wenn der Erblasser unter Betreuung steht. Die Testierunfähigkeit muss also zur vollen Gewissheit des Gerichts feststehen. Eine formelle Beweislast gibt es im Erbscheinverfahren nicht. Da grundsätzlich aber von einer Testierfähigkeit auszugehen ist, trägt die Feststellungslast für die Testierunfähigkeit als eine das individuelle Erbrecht vernichtende Tatsache derjenige, der sich auf die darauf beruhende Unwirksamkeit des Testaments beruft; Zweifel gehen zu seinen Lasten. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang, ob der Testierende noch in der Lage ist, sich über die Tragweite seiner Anordnungen ein klares Urteil zu bilden und dann frei von Einflüssen etwaiger interessierter Dritter zu handeln oder nicht. Eine Betreuung als solche berührt die Testierfähigkeit dabei nicht; auch für den Betreuten besteht die Vermutung der Testierfähigkeit. […] Auch Störungen der Geistestätigkeit führen für sich genommen noch nicht zwangsläufig zu einer Testierunfähigkeit. Auch insoweit gilt vielmehr, dass der Erblasser so lange als testierfähig anzusehen ist, wie seine Testierunfähigkeit nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen ist. Gerade der Problematik der sogenannten »lichten Momente« kommt dabei besondere Bedeutung zu. […]