Totschlag (§ 212 StGB) und Vorsatz: Diese Woche verweisen wir auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshof aus dem Bereich des Kapitalstrafrechts. Die Frage des subjektiven Tatbestands beschäftigt den Bundesgerichtshof immer wieder, da entsprechende Feststellungen der Instanzgerichte häufig nicht der sachlich-rechtlichen Überprüfung standhalten.

 

Zum Sachverhalt:

 

„Nach den Feststellungen des Landgerichts verließ der Angeklagte am 10. Oktober 2020 gegen ärztlichen Rat eine psychiatrische Klinik, in die er aufgrund einer am 9. Oktober 2010 im betrunkenen Zustand (1,27 Promille) begangenen Aggressionstat eingewiesen worden war. Am 11. Oktober 2020 verbrachte der Angeklagte den Tag zunächst in seinem Zimmer einer Wohngemeinschaft, trank dort eine halbe bis eine Flasche Whiskey. Sodann ging er zwischen 15:00 Uhr und 15:27 Uhr in das Zimmer des späteren Tatopfers S. . Während dieser ein Videotelefonat mit Familienangehörigen führte, umarmte ihn der Angeklagte und gab ihm Küsschen. Ob dieses Verhaltens gerieten S. und der Angeklagte erst in Streit und sodann in eine nicht im Detail aufklärbare körperliche Auseinandersetzung, der weder ein tätlicher Angriff noch eine grobe Beschimpfung oder eine schwere Kränkung durch S. vorausgegangen war. In deren Verlauf fügte der Angeklagte dem S. mit einem Küchenmesser mit etwa 8,5 cm Klingenlänge eine alsbald zum Tod führende Stichverletzung im Hals zu. Er nahm dabei den Tod des S. zumindest billigend in Kauf.

Der Angeklagte, der „unter einer paranoiden Persönlichkeitsstörung und einer psychischen und Verhaltensstörung durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen“ (UA S. 4) leidet, hatte zum Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration „zwischen mindestens 1,48 Promille und maximal 2,11 Promille. Zudem stand er unter dem Einfluss von Benzodiazepinen“ (UA S. 15). Aufgrund dessen war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten während der Tat erheblich eingeschränkt, allerdings nicht aufgehoben.“

 

Urteilsgründe:

 

„Die Feststellung eines bedingten Tötungsvorsatzes ist nicht hinreichend belegt.

1. Das Landgericht hat hierzu ausgeführt:
„Die Feststellungen zum bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten konnte die Kammer deshalb treffen, weil der vom Angeklagten ausgeführte tiefe Stich mit dem rosafarbenen Messer in den Hals des S. objektiv derart gefährlich war, dass einzig die Annahme eines solches Vorsatzes plausibel ist.
Durchgreifende vorsatzkritische Indizien, die diesem Schluss von der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung auf den Vorsatz im Wege stehen könnten, haben sich nicht ergeben, insbesondere nicht mit Blick auf eine affektive Erregung im Sinne einer Spontantat und eine Tatbegehung im intoxikierten Zustand. Denn diese beiden potentiell vorsatzkritischen Umstände hat die Kammer in die Gesamtabwägung eingestellt und ihnen angesichts der besonderen Gefährlichkeit, die von tiefen Messerstich in den Hals ausgeht, kein Gewicht beigemessen, das ein Handeln mit bedingtem Tötungsvorsatz infrage stellen könnte.“

2. Diese nicht weiter ausgeführten Erwägungen der Strafkammer werden den nach der Rechtsprechung an die Feststellung eines bedingten Tötungsvorsatzes gestellten Anforderungen (vgl. statt aller BeckOK-StPO/Eschelbach, 54. Ed., § 212 Rn. 24 ff. mwN) nicht gerecht.
a) Bedingt vorsätzlich handelt, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Ziels Willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet (Willenselement), mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Beschluss vom 30. Juli 2019 – 2 StR 122/19, Rn. 15 mwN). Zwar liegt es bei gefährlichen Gewalthandlungen (wie hier bei einem Messerstich gegen den Hals des Tatopfers) regelmäßig nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit, das Opfer könne dabei zu Tode kommen, rechnet und einen solchen Erfolg in Kauf nimmt. Aber auch in einem solchen Fall ist das Tatgericht nicht von einer umfassenden Prüfung beider Elemente des bedingten Tötungsvorsatzes und ihrer Darlegung entbunden. Insbesondere bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements ist es regelmäßig erforderlich, dass sich das Tatgericht auch mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung sowie seine Motivation in Betracht zieht (st. Rspr.; vgl. etwa Senat, Urteil vom 19. Ja-nuar 2022 – 2 StR 323/21; Beschluss vom 15. Dezember 2020 – 2 StR 140/20).


b) Hiervon ausgehend durfte sich die Strafkammer bei ihrer Bewertung der Beweistatsachen nicht mit allgemeinen, formelhaften Wendungen begnügen.
aa) Zum einen ist nach den Urteilsgründen schon nicht ersichtlich, dass der Angeklagte ob seines Zustands die Gefährlichkeit seines Handelns erkannt hat (Wissenselement). Die Strafkammer hätte sich insoweit mit der Frage auseinandersetzen müssen, welchen Einfluss die festgestellte „Intoxikation“ des Angeklagten und/oder die paranoide Persönlichkeitsstörung auf die Wahrnehmungsfähigkeit des Angeklagten im Tatzeitpunkt hatte. Zu näherer Erörterung hätte sich die Strafkammer, die zum eigentlichen Tatgeschehen keine näheren Feststellungen hat treffen können, auch deswegen gedrängt sehen müssen, als sie davon ausgegangen ist, der Angeklagte habe bei vorangegangenen Aggressionstaten (am 22. August 2020 und am 9. Oktober 2020) das Verhalten der Tatopfer „irrigerweise als Angriff“ (UA S. 76) gewertet. Ob diese Realitätsverkennung Ausfluss der Persönlichkeit, gegebenenfalls in Verbindung mit dem Konsum von Alkohol oder Betäubungsmitteln war und ob und gegebenenfalls welche Schlussfolgerungen sich hieraus auf den Vorsatz des Angeklagten zum Tatzeit-punkt ergeben, bleibt gänzlich unerörtert.

bb) Zum anderen hätte die Strafkammer in den Blick nehmen und in eine nachvollziehbare Gesamtwürdigung einstellen müssen, dass auch bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen im Einzelfall das voluntative Element des bedingten Tötungsvorsatzes fehlen kann, selbst wenn der Täter alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen. Zu den insoweit erörterungsbedürftigen Umständen zählt neben der Beeinflussung des Angeklagten durch Alkohol und Benzodiazepine (vgl. MüKoStGB/Schneider, 3. Aufl., § 212 Rn. 15 mwN) der Umstand, dass es sich – wovon die Strafkammer hier offenbar ausgeht – um eine Spontantat handelte. Insbesondere bei spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das – selbstständig neben dem Wissenselement stehende – voluntative Vorsatzelement ohne Weiteres gegeben ist (vgl. BGH, Urteil vom 16. August 2012 – 3 StR 237/12, NStZ-RR 2012, 369).“

 

Für Fragen stehen Ihnen die Strafverteidiger Jens Janssen, Dr. Jan-Carl Janssen und Jan-Georg Wennekers gerne zur Verfügung.